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DAS MALHEUR

Die grande Misere des Filius MacO'Benson nahm im Ultrasupermarket ihren Anfang. Filius stand mit überquellendem Warenkorb bei der Autokass, die Waren waren allesamt durchleuchtet und registriert. Dezent und nur für Filius sichtbar erschien am Display die Summe, die er nun abzubuchen habe. Als er jedoch seine Kontokarte einschob, spuckte die Autokass sie in hohem Bogen wieder aus. „Annahme verweigert", erschien nun unnötigerweise, doch wiederum dezent, nur für Filius lesbar, am Display.
Filius musste sich zwischen seinem Warenkorb und der Nebenkass durchdrücken, damit er an die am Boden liegende Kontokarte herankam. Die wiedererlangte Karte schob er neuerlich in den Buchungsschlitz der Kass, mit gleichem Erfolg wie zuvor.
Den hinter seinem Warenkorb Wartenden beteuerte Filius mit verlegenem Lächeln, dass sichs hier nur um ein Versehen handeln könne und er sich um möglichst rasche Abwicklung des Zahlvorganges bemühen werde. Die Autokass sagte naturgemäß nichts, sondern bleckte bloß bösartig mit dem Display.
Als der dritte Versuch ebenfalls scheiterte, tat Filius das einzig Richtige und zuckte hilflos mit den Achseln.
Der Mob hinter Filius MacO'Bensons Einkaufskorb wurde merklich unruhig. Alle hatten sies eilig ihre überquellenden Warenkörbe durchzuschleusen. Manche schoben und zogen sogar zwei überquellende Körbe zur Kass, die hattens noch eiliger als die anderen. Durchaus verständlich, denn es war Donnerstag nachmittag und das Weekend stand vor der Autotür, man wollte rasch ins Freizeitdomizil und musste vorher noch hunderte andere Dinge erledigen, ganz abgesehen von dem zeitraubenden Vorgang, den das Einräumen der erstandenen Waren erforderte; so ist das nämlich, mein Herr. Filius war betroffen, würde er allem Anschein nach doch diesmal nichts einzuräumen haben, räumte jedoch den anderen ein, dass ihre Eile berechtigt sei.
Wohin, war jetzt die Frage, sollte Filius zu allem Überdruss mit dem Überfluss an Artikeln, die nicht die seinen waren.
Hinten lauerte der Mob, fest entschlossen weder zu wanken noch zu weichen, der Weg nach vorne hinwiederum blieb von der Autokass solange versperrt gehalten, bis bezahlt ward. „Storno! Storno!" rief der zur Zeit schon ein wenig erhitzte und nervöse Filius in der vagen Hoffnung, dass ein Bediensteter des Ultrasupermarkets sich seiner erbarmen möge. Das dauerte eine Weile, denn auf Situationen wie dem Filius die seine war das Personal nicht vorbereitet.
Einige der hinter Filius gewartet habenden hatten sich bereits anderen Warteschlangen angeschlossen, die anderen harrten aus und waren bös auf ihn.
Filius erwog, ins Innere des Markets vorzudringen, um dort einen der Sortierer aufzugabeln, den er dann um Hilfe schicken könnte. Entfernt dachte er daran, das Gesammelte an die Eiligen zu verteilen, blickte sich um, sah mürrische Gesichter und verwarf letzteres wieder. Auch ersteres schien ihm nicht ganz so praktikabel, wenn er an den Spießrutenlauf dachte, den er an den Ungeduldigen vorbei würde absolvieren müssen.
Ein untersetzter Mensch im typisch grellen Overall der Ultrasuperworker zeigte sich, doch der kümmerte sich wenig um einen schreienden und fuchtelnden Filius. Schließlich – unter Unmutsäußerungen derer, die sowieso schon schlecht zu sprechen waren auf ihn – überkletterte Filius die Absperrung neben der Autokass und löste damit ein Signal aus, welches aus allen Winkeln des Ultrasupermarkets infernalisch tönte und die lärmempfindlicheren unter den Kunden vollends aus dem Häuschen brachte.
Zwei Herren im Gendarmenzivil erschienen und steuerten stracks auf Filius zu, den sie mit geschulten Blicken sogleich als Verursacher des Spektakels ausgemacht hatten. Außerdem deuteten etliche Zeigefinger in die Richtung. Die beiden Hausdetektive, um welche es sich bei den Herren im Gendarmenzivil offensichtlich handelte, besaßen Takt genug, Filius hinter vorgehaltenen Zeitungen aufzufordern, ihnen unauffällig zu folgen. Die Autokass fünfundvierzig, vor der jener bewusste, nunmehr herrenlose Warenkorb einsam vor sich hin ächzte, wurde vorübergehend außer Betrieb gesetzt, was für einige der enttäuschten Wartenden Gesprächsstoff für den Rest des Tages abgab.
Im erdbebensicheren Büro des Filialleiters hing eine Wolke des Misstrauens um Filius und dessen etwas konfuse Explikationen. Der Filialleiter zeigte sich dennoch verständnisvoll und konziliant, denn ihm war nichts Technisches fremd. Nachdem er Filius um seine Kontokarte gebeten hatte, meinte er knapp, dass man das gleich haben werde, gab mit geübter Fingerfertigkeit einige Zahlen ins Terminal ein und stellte so die Verbindung zu Filius' Bankinstitut her. „Hier Wendelin Ultrasupermarket südsüdost zwo, Auskunft erbeten über Konto zwo-eins-acht-sieben-drei-null-null-eins-neun, MacO'Benson Filius, Zehnter Fünfter zwo-null-zwo-acht". Nach den Kontrollformalitäten schnarrte es aus dem Speaker des Computers: „Kein Konto unter dieser Nummer, MacO'Benson Filius unbekannt!" Wie zur Bekräftigung und Filius zum Hohn standen dieselben Worte auch noch auf dem Monitor zu lesen.
Filius registrierte all das und dazu jenes süffisante Grinsen, mit dem der Filialleiter seinen zwischen Filius' Kontocard und Filius himself pendelnden sarkastischen Blick untermalte, mit gehörigem Grauen. Schlecht gefälscht, die Kontocard, schien der Blick zu besagen.
Damit war Filius vorläufig der Wind aus dem Gaumensegel genommen.
Die eine Ungeheuerlichkeit, dass sein Bankinstitut ihn nicht mehr kennen wollte, und die andere, dass er dessenthalben als Betrüger verdächtigt wurde, musste er immerhin erst emotionell bewältigen.
Als er wieder etwas zu sich gefunden hatte, regte er an, Verbindung mit dem Verrechnungscomputer seiner Arbeitsstätte aufzunehmen, der müsste bestätigen können, dass seine Gehälter stets vom Firmenkonto auf das genannte Konto bei erwähnter Bank überwiesen worden waren. Filialleiter Wendelin versprach sich nicht viel davon und tippte missmutig die von Filius angegebenen Daten ein. Die Antwort aus dem Verrechcomp war dann eher eine Bestätigung für Wendelin und durchaus nicht im Sinne Filius'.
„MacO'Benson Filius hier nicht geführt", hörte und las man nun, „Kontonummer unbekannt". Wendelin grinste abermals süffisant, schaute recht sarkastisch und nickte sein berüchtigtes Habichallesschonvorhergewusstnicken.
„Das kann nicht sein, das versteh ich nicht, ich bin doch heute vormittag noch dortgewesen", versicherte der verstörte Filius, der immerhin sicher war, an diesem Donnerstag zwei Stunden an seiner Arbeitsstätte bei Blend und Co., einem Werbebüro, zugebracht zu haben, und nunmehr wollte man auch dort nichts mehr von ihm wissen. Nicht genug, dass er plötzlich mittellos geworden war, jetzt sollte er zudem ohne Arbeit dastehen.
Um zu beweisen, dass es ihn überhaupt gab, verfiel Filius auf die Idee, die Sozialversicherungsdatei und den Magistratscomputer abzufragen.
Wendelin versprach sich und Filius davon abermals nichts, nahm aber dennoch, wenn auch weiterhin ohne eigentlichen Ansporn, Verbindung mit den Dateien auf.
Beide Abfragen verliefen ergebnislos, ein MacO'Benson Filius war nicht bekannt, nicht registriert.
Ein panischer Filius zog jetzt eine abzufragende Datei nach der anderen aus dem Ärmel des Gedächtnisses: den Kfz-Meldecomputer, die Dateien eines bekannten Reisebüros, der Telefonzentrale, eines Zahnarztes, eines Lebensmotivationstherapeuten, eines Kosmetiksalons und so fort usw. etc. und dergleichen mehr.
Ein unwilliger Wendelin wiederum konnte nicht umhin, all die Verbindungen aufzunehmen. Doch nützte das beiden, dem Filius und dem Filialleiter, herzlich wenig.
Wendelin betrachtete Filius mittlerweile mit Verwunderung. Dass da einer vor ihm stand, den er zwar sehen konnte, dens aber eigentlich nicht gab, war völlig neu für den Herrn Filialleiter.
Ebenfalls neu war für den Filius der Zustand des Nicht-Existierens. So war ihm doch einiges an Boden unter den Füßen weggetan. Und weil der Filialleiter so deutlich hörbar meinte, dass da offenbar einer in eine falsche Identität geschlüpft sei wie der Kaiser in die neuen Kleider, und eben weil ihm der Boden unter den Füßen fehlte, stürzte Filius haltlos in einen Ausbruch von sinnloser Wut.
Genau wusste er nachher nicht mehr zu beschreiben, was er in seinem Koller alles angestellt hatte, und was in weiterer Folge um ihn herum geschehen war.
In den Boulevardblättern stand etwas von einer amokgelaufenen Bestie im Supermarkt, von abgebissenen Ohrläppchen und Nasenspitzen, einem zertrümmerten Safe, gequälten Tieren aus der Spielzeugabteilung, vernichteten Gummiartikeln, von einer panisch fliehenden Menge und zwanzig zerfetzten Uniformen jener Polizisten, die den Rasenden, bei dem es sich allem Anschein nach um einen gemeingefährlichen Irren handelte, der den Decknamen Vitus Bössohn benutzte, mit äußerster Anstrengung gerade noch zu bändigen vermocht hatten.
In dem Bericht, mittels dessen Wendelin die Schadenersatzansprüche bei der Assekuranz-Gesellschaft geltend zu machen gedachte, führte er Schäden am Bauwerk, an hochqualitativen Waren, an der Einrichtung, darunter sämtlichen elektronischen Geräten, sowie an zweiundzwanzig Personen an, die sich insgesamt auf etliche Millionen beliefen. Die Gesellschaft jedoch weigerte sich zu zahlen, weil die Supermarktkette nicht gegen Irrsinn versichert war.
All das Vorgefallene wurde Filius in der geschlossenen Anstalt, in der er sich wiederfand, entsprechend angelastet. Bald gab es ein umfangreiches, strengstem Datenschutz unterliegendes Dossier mit der Zahl neuntausenddreihundertundsieben über den nunmehr numerierten Filius, welches unter den in der Anstalt Beschäftigten als interessante Lektüre kursierte.
Vage erinnerte er sich später an Verhöre, in denen er immer wieder behauptet hatte, er selbst zu sein, was ihm aber niemand glauben wollte, weils nicht zu belegen war.
Ebenso schien der Herr in Weiß, der gar so gerne seltsame Fragen stellte, auf Filius' Antworten immer betreten den Kopf schüttelte und viel notierte, nicht wirklich an Filius MacO'Benson zu glauben, wenn ers auch oft scheinheilig beteuerte.
Die fragwürdigen Methoden, mit denen er zu einer für ihn unverständlichen Vernunft gebracht werden sollte, hatten insgesamt einen zwar verschwommenen, aber durchaus bleibenden Eindruck hinterlassen.
Ungezählte Tage musste er in dem Krankenhaus zubringen, obwohl ihm außer der Identität eigentlich nichts fehlte.
Regelmäßig wurde er befragt, wer er sei und woher er komme. Immer wusste er darauf nichts weiter zu antworten, als dass er Filius MacO'Benson heiße, in St. Pölten, Ludwigstraße einhundertundsieben, zwounddreissigster Stock, Appartement neunhundertzehn wohne. Darauf hieß es jedesmal bunte Tabletten einnehmen, welche die einzige Abwechslung im sterilen Weiß der Anstalt darstellten, wo sogar Gesichter fahl waren. Unbegreiflich blieb den Medizinern Filius' Beharrlichkeit und der Umstand, dass er auf kein Medikament, egal welcher Färbung, in gewünschter Weise ansprach.
Sollte die moderne Medizin an diesem eigentümlichen Patienten scheitern?
Als Filius, von den vielen Tabletten schließlich tatsächlich verwirrt und benebelt, eines Tages endlich behauptete Napoleon Gutteil zu heißen, wären seine Aussichten auf eventuelle Entlassung mit einem Mal erheblich gestiegen, hätte er nicht bald darauf einen anderen Insassen der bewussten Anstalt körperlich attackiert.
Wie es dazu gekommen war, ließ sich schwer rekonstruieren. Von den Pflegern hatte keiner nix gesehen, dem wirren Geplapper der Beteiligten schenkte man keine Beachtung, und alle anderen als Zeugen in Frage kommenden Insassen der geschlossenen Anstalt gaben sich verschlossen. Als Tatsache durfte gelten, dass der eine plötzlich auf dem Boden lag und Filius auf ihm kniete und ihn würgte. Als man Neuntausenddreihundertundsieben von seinem Opfer weg in Richtung Kaltwasserdusche und Elektroschocker zerrte, rief der nur stereotyp: „Er hat mich gelöscht, er wars, er hat mich gelöscht".
Aktion und Aussage wurden natürlich als Bestätigung für Filius' Wahnsinn gewertet. Dabei hatte sich die Geschichte anfangs recht positiv entwickelt: Wie es immer und überall gang und gäbe ist, keimt in Menschen gleichen Niveaus mitunter gewisse Sympathie füreinander, woraus sich nicht selten regelrechtes Vertrauen entwickeln kann. Die beiden Leidensgenossen, darf man behaupten, waren eine Zeitlang gute Freunde gewesen, und der von Filius initiierte vehemente Abbruch dieser Freundschaft stürzte Ärzteschaft und Pflegepersonal, welche Filius bereits auf dem Wege der Besserung gewähnt hatten, in Verwirrung und Bekümmernis, und der unverzüglich befragte Anstaltscomputer druckte auf seine Weise Besorgnis aus.
Napoleon Gutteils Zustand verschlimmerte sich von da ab wirklich bedenklich.
Man musste die beiden Insassen, den einen, der wegen manischen Hackens eingeliefert worden war, vom anderen, der immer noch oder vielmehr schon wieder behauptete Filius MacO'Benson zu heißen, streng getrennt halten, denn Filius empfand in letzter Zeit eine tiefe Feindschaft dem ehemaligen Freunde gegenüber und hatte schon angekündigt, ihn wieder zu würgen.
Zudem pflegte Filius seit dem Raufhandel grimmig brummelnde Selbstgespräche zu führen, die sich alle darum drehten, dass er nun irgendetwas wisse und irgendjemanden kenne und dieser irgendjemand schon noch sehen werde. Dem neuen Symptom wurde mit doppelten Dosen bunter Tabletten Rechnung getragen. Fast hätte Filius MacO'Benson alias Napoleon Gutteil respektive Neuntausenddreihundertundsieben dadurch seine Entlassung verdämmert. Er war so benommen, dass er sich nicht einmal wunderte nun seiner Wege ziehen zu dürfen. Er ging halt einfach und sollte nie erfahren, dass sein gewesener Freund eigentlich derjenige war, welcher dafür gesorgt hatte, dass Napoleon und einige andere neuerdings ehemalige Insassen der Anstalt in die Freiheit durften.
Der leidenschaftliche Computermanipulateur hatte sich nämlich heimlichen Zugang zum Anstaltscomputer verschaffen können und in unbewachten Augenblicken, seinem alten Pläsier frönend, gleich wieder ein wenig daran herumgespielt, unter irrem Kichern da ein wenig gelöscht, dort ein wenig hinzugetan, bis der Computer selber deutliche Anzeichen von Wahnsinn zeigte.
Wenn der Computer sagt, dass einer gehen darf, dann darf er eben gehen und keiner der Ärzte maßte sich an, diese elektronische Entscheidung zu hinterfragen oder gar zu unterstellen, dass der Computer spinne.
Napoleon Gutteil fand zurück in eine elektronisch verwaltete Existenz und nichts erinnerte mehr an den alten Filius MacO'Benson. Nur der neue Mieter des Appartement neunhundertundzehn im Hause Ludwigstraße einhundertundsieben in St. Pölten war inzwischen ziemlich verärgert über die doppelten Rationen von Werbematerial, die ihm konsequent zugesandt wurden und die seinen Briefkasten manchmal über Gebühr verstopften. Ein Teil war für ihn beistimmt, dagegen hatte er weiter nichts einzuwenden. Der Adressat der zweiten Garnituren aber war ein gewisser Filius MacO'Benson, weiß der Teufel, wer das sein mochte, jedenfalls wohnte der hier schon lange nicht mehr.

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